Wir ziehen um!
Warum ein Umzug eine heftige Trennungserfahrung ist – Oder: Was ein Umzug in (unseren) Kindern auslöst und wie wir sie entwicklungsfreundlich begleiten können
In Kürze ist es so weit und wir ziehen um. Noch gibt es «henne» viel zu tun bis unser «altes» Haus geräumt und abgabebereit ist, aber damit möchte ich gar nicht anfangen (es fühlt sich grad echt «never ending» an und ich könnte locker einen Blog mit meiner inneren To-Do-Liste füllen…)
Dass wir diesen Herbst umziehen, wissen wir schon seit einigen Monaten – wir sind also gut vorbereitet. Und natürlich haben wir auch versucht, unsere Kinder gut vorzubereiten. Mittlerweile sind alle drei so alt, dass sie das alles ganz bewusst erleben und auch Teil dieser Reise sein möchten. Als wir vor knapp 10 Jahren in unser «altes» Zuhause gezogen sind, mit einer Zweieinhalb-Jährigen und einem Knapp-Einjährigen, war das noch (etwas) anders.
Wir 5 freuen uns alle riesig auf unser neues Zuhause – wir haben lange gesucht und genau das gefunden, was wir uns so sehr gewünscht haben. Jippiejeh!!
Dennoch herrscht bei uns nicht «Freude pur», denn der Umzug heisst auch loslassen und Abschied nehmen. Vom liebgewonnenen Garten, der Nachbarschaft und den Spielkameraden ebenso wie von unserem runden Cheminée und überhaupt von den drei absoluten Lieblingsorten unserer Kinder: Ihren Zimmern resp. ihren Betten mit den Ausguckfenstern und dem Blick in die Berge…
… und dieses Loslassen schmerzt.
Von der Schule, der Klasse oder der Lehrer:in Abschied nehmen, brauchen unsere Kinder nicht und unsere Homeschooler-Gspänli werden uns erhalten bleiben, aaaber: Das kann natürlich auch sehr schmerzen!
«Muesch doch nöd truurig si…»
Wie oft haben meine Kinder in den letzten Monaten von Erwachsenen gehört, dass das doch nicht so schlimm sei und sie doch nicht traurig sein sollen, weil es am neuen Ort ja sicher wieder ein schönes Zimmer und überhaupt einen noch tolleren Garten und oben drauf ganz viele Tiere haben werde… Und ja, das stimmt alles und ja, darauf freuen sich unsere Kinder auch sehr…! Nur geht es im Moment überhaupt nicht darum!
Schauen wir’s mal von der logischen Seite her an:
Jedem Neuanfang geht ein Ende voraus.
Und weil das Ende zuerst kommt, darf, soll und will dieses Ende auch zuerst gewürdigt werden.
Erst dann sind wir innerlich bereit für den Neuanfang.
Das ist natürlich nicht der lustige und freudvolle Teil des Umzugs. Und ja, natürlich wollten all die Erwachsenen von meinen Kindern viel lieber von ihrer Vorfreude hören denn vom unangenehmen Trennungsschmerz. Und auch bei mir ist es so, dass mir - gerade wenn die Workload hoch und der Geduldsfaden dünn ist – die Vorfreude auf den Neuanfang viel näher liegt als das Betrauern des Endes.
Nur hilft das unseren Kindern erstmal gar nicht: Das unangenehme Gefühl wird nämlich davon nicht weggehen. (Das tut es nur, wenn unsere Kinder sich gegen verletzliche Gefühle panzern, und das ist definitiv nicht das, was ich mir für unsere Kinder wünsche). Kommt dazu, dass (kleine) Kinder die Vorfreude und den Trennungsschmerz kaum Mischen und deshalb auch nicht das eine gegen das andere abwägen können. Sie fühlen meist entweder das eine oder das andere (also kein “Es ist schade, dass wir hier weg müssen, und gleichzeitig freue ich mich auf das Neue”).
Wie also können wir unsere Kinder entwicklungsfreundlich durch einen Umzug begleiten?
Am Anfang steht das Verständnis dafür, dass so ein Umzug eine waschechte Konfrontation mit Trennung ist – und zwar auf ziemlich vielen Ebenen. Und wer hier schon etwas mitgelesen oder mitgehört hat, der weiss, dass Trennung die grösste Bedrohung für uns Menschen ist.
Die Kinder müssen sich nicht nur von Haus, Garten und der Nachbarschaft verabschieden, sie müssen auch Gewohnheiten und viel Vertrautes loslassen. Oder wie es unsere Kinder ausdrücken:
«Weisst du, Mama, hier im Haus kenne ich einfach jeden Winkel, alles ist mir vertraut. Ich kann im Dunkeln aufs Klo gehen und weiss genau, wie es in der Küche riecht… und das verliere ich nun alles. Und irgendwann werde ich mich nicht einmal mehr wirklich daran erinnern…».
«Dieses Zimmer ist mir sooo wichtig, in diesem Zimmer ist sooo viel von mir drin – da stirbt ein Teil von mir, wenn ich es loslassen muss!»
«Auf diesem Baum bin ich so viel gesessen – und nun werde ich ihn nie wieder sehen. Wer weiss, ob er in einem Jahr noch steht…»
Zu erkennen, mit welch mächtigen inneren Herausforderungen unsere Kinder da konfrontiert sind, ist grundlegend für ihre Begleitung.
Und ja, das ist schmerzhaft für uns Eltern! Denn auch in mir gibt es diesen Teil, der sich wünscht, dass unsere Kinder nie mit solch schwierigen, traurigen und schmerzhaften Gefühlen konfrontiert werden, und dem es schwerfällt, sie leiden zu sehen…
Und gleichzeitig weiss ich, dass Abschiede und Loslassen zum Leben dazugehören. Das war schon immer so - und in unserer schnelllebigen und unsicheren Zeit trifft das vielleicht ganz besonders zu und ist eine Grundlage für Resilienz.
Umso wichtiger ist es für unsere Kinder & Teenies, dass sie solche Abschiedsgefühle und -Gedanken nicht einfach irgendwo in sich wegsperren oder einfrieren müssen, weil wir Erwachsene sie ihnen – aus egoistischen Gründen? – ausreden: Kinder sollen all das fühlen und integrieren dürfen.
Und der Job von uns Erwachsenen ist es, ihnen hierfür Raum zu bieten.
Konkret heisst das, dass wir ganz viel Verständnis haben für diese inneren Herausforderungen. Und dass…
… wir Ihnen zur Seite stehen, wenn Erwachsene meinen, sie sollen doch nicht traurig sein und ins ggf. ins Gespräch einklinken: «Für uns alle ist das ein grosser Abschied. Wir waren sehr wohl hier und das zu fühlen, gehört einfach zum Leben dazu…»
… wir Aussagen wie diejenigen weiter oben nicht einfach klein reden, sondern bestätigen: «Ja, das ist wirklich traurig…». Oder «Ja, mir geht es auch so… Weisst du, hier mit dieser Aussicht habe ich dich immer gestillt».
… dass wir diesen Gefühlen auch mal von uns aus bewusst Platz einräumen und nicht nur vom tollen neuen Zuhause sprechen: «Hier bin ich so oft gesessen während meiner Mittagpause und hab die Berge und die Pferde der Nachbarn beobachtet. Das tut mir immer so gut – und bald wird es das letzte Mal sein».
Unsere Kinder brauchen eine grosszügige Einladung, um all diese schwierigen & verletzlichen Emotionen zu fühlen.
Und wichtig: Nicht für alle Kinder ist dieser Schritt des Loslassens gleich schwierig. Da hilft es, genau hinzuschauen: Vielleicht ist es für Kind A unglaublich wichtig, dass alles, aber auch wirklich alles aus dem Zimmer mit ins neue Zuhause kommt (also auch die längst verstaubte Schachtel mit den längst vergessenen Basteleien aus dem Kindergarten) und dass es bei wirklich jedem einzigen «letzten Mal» dabei sein kann (das letzte Mal Hecke schneiden, das letzte Mal auf dem Trampolin gumpen, bevor es abgebaut wird, das letzte das Feuer im Cheminée anzünden…). Für Kind B ist das alles vielleicht gar nicht so wichtig. Und Kind C schien vielleicht lange so, als kümmere es sich nicht gross darum und als überwiege die Vorfreude, bis dann einen Monat vor Umzug all die Emotionen doch noch durchbrechen und es wie ein wandelnder Vulkan Asche und Lava spuckt und nicht mehr zur Ruhe kommt.
Und um diese Emotionsausbrüche zu begleiten, hilft es zu verstehen, was so eine Konfrontation mit Trennung in unseren Kindern drin auslöst: Einen Sturm aus primären Emotionen, darunter ganz viel:
Frustration,
weil da grad was nicht so läuft, wie wir’s gerne hätten («Mama, können wir nicht das neue Haus kaufen und das alte hier noch behalten und vermieten…?»).
Alarm,
weil unsere innere Alarmsirene losgeht, wann immer wir mit Trennung konfrontiert sind, schliesslich ist Bindung unser Grundbedürfnis - und ja, wir sind auch an Liebegewonnenes und Vertrautes gebunden.
Je mehr wir die Trennungserfahrung unserer Kinder kleinreden, übergehen oder vielleicht schlicht übersehen, weil wir’s nicht besser wissen, desto weniger können unsere Kinder mit ihr in Beziehung gehen. Und desto mehr kreisen die Trennungsemotionen in ihnen wie im Schleudergang einer Waschmaschine und werden «deplatziert» ausgedrückt. Sie kommen dann irgendwo zum Ausdruck, wo sie vielleicht völlig unangebracht und übertrieben erscheinen - bspw. irrationale Ängste (vor Monstern unterm Bett oder brennenden Häusern bspw.) oder als vermehrtes Gezänke unter den Geschwistern, weil sich so ganz einfach viel Alarm und Frustration abladen lässt… (Aarrrg – mühsam!)
«Ich überlebe das nicht…»
Für sensitive Kinder kann eine solche Erfahrung aber auch schlicht überwältigend erscheinen – viel zu gross, um die damit verbundenen Gefühle zu fühlen. In den Worten eines Kindes kann das dann so klingen: «Nein, MamaPapa, ich kann das nicht. Ich überlebe das einfach nicht, wenn ich zu unserem Haus raus muss – egal, wie schön unser neues Zuhause ist, ich werde tot dort ankommen.»
Gerade wenn die eigentliche Ursache des Alarms und der Frustration zu gross und zu verletzlich ist, als dass sie gefühlt werden könnte, müssen wir damit rechnen, dass die Emotionen anders wo zum Ausdruck kommt. – Hierfür Verständnis zu haben und solche Emotionsausbrüche mitfühlend zu begleiten, ist nicht immer ganz leicht, vor allem in Zeiten, in denen die Work- und Mental-Load von uns Eltern wegen Hauskauf/-verkauf, Hypotheken, Umbau und Umzug eh schon ziemlich grenzwertig ist.
Wir haben also in den letzten Monaten versucht viel Raum zu schaffen für dieses «Loslassen» (mit bewussten Ritualen aber vor allem auch mit kleinen Erwähnungen im Alltag) und für die damit verbundenen Emotionen wie Frustration und Alarm (und für ein verstärktes Kuschelbedürfnis).
Das war und ist nicht immer ganz einfach (die Mental- und Workload ist immer noch hoch), doch je mehr ich diese Situationen zum Anlass nehme, auch mir ganz bewusst den Raum zum Fühlen des Abschieds zu nehmen, umso eher sehe ich das Geschenk darin: Eine Einladung unserer Kinder, das wirklich Wichtige über die innere To-Do-Liste zu stellen, den Emotionen Raum zu geben und die Beziehung zu ihnen zu vertiefen. Und ja, sie haben schon die eine oder andere Abschieds-Träne in meinen Augen gesehen – und es werden sicher noch mehr kommen*.
Denn das ist so ein Umzug ja vor allem auch: Eine wunderbare Abenteuer-Reise für die ganze Familie, mit Stromschnellen und unverhofften Hindernissen und mit ganz wunderbaren Lagerfeuerstimmungen.
Und deshalb planen wir in den nächsten zwei Wochen neben all dem Räum-, Pack-, Um- und Einzugsarbeiten auch einzwei weitere Zwischenhalte mit kleinen Ritualen ein, um diesen grossen Schritte für unsere Familie auch wirklich zu würdigen.
Voilà, das ist mein letzter Blog-Eintrag aus meinem Homeoffice hier im Gürbetal mit Blick auf die Stockhornkette – wieder so ein kleiner Abschied,
PS. Natürlich gäbe es noch viiiel mehr zu sagen und zu erzählen davon, wie wir unsere Kinder bindungsbasiert und entwicklungsfreundlich durch solche grossen Übergänge begleiten… In meinen Jahreskurs «Kinder mit ganzem Herzen begleiten», in den du noch einsteigen kannst, erfährst du mehr davon.
* Kleiner Tipp: Es hilft, wenn wir Eltern uns Zeit nehmen, um diese Trauer für uns alleine zu fühlen. So können wir nämlich dann, wenn die Kinder auch dabei sind, ganz für sie da sein und sind nicht (plötzlich) mit den unbekannten Tiefen unseres Innenlebens beschäftigt.
Bild: Simona