«Mama, mein Kopf ist schuld…!!!»

Wie sich einer der grossen Meilensteine in der Entwicklung meiner Kinder abzeichnete – Oder: Wie Kinder beginnen, ihre Impulsivität zu überwinden

 
 

Es ist noch gar nicht lange her, da kam auch unsere Jüngste in diese ganz wunderbare Phase, die – so viel vorneweg - nicht nur wortwörtlich wunder-bar, sondern auch wahnsinnig herausfordernd ist, und das nicht mal unbedingt für uns Eltern als vielmehr für unsere Kinder:

«Weisst du, Mama, das mit meinem Kopf ist sooo anstrengend für mich…!» ist eine der Aussagen von damals, die mir lebhaft in Erinnerung geblieben sind.

Wovon ich spreche? Von einem der grossen Entwicklungsschritte unserer Kinder, der sich in ihrem Inneren vollzieht und den wir auf keinen Fall verpassen sollten: Irgendwann zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr geschieht im Gehirn unserer Kinder - genauer gesagt im präfrontalen Kortex - etwas Grossartiges, vorausgesetzt, das Kind und sein Gehirn haben während ihrer bisherigen Entwicklung günstige Bedingungen angetroffen. Diese brauchen Kind und Gehirn nämlich, um sich gesund zu entwickeln und um die bei der Geburt noch sehr plastischen Hirnareale mit einander zu verkabeln und die Kommunikation zwischen ihnen aufzugleisen.

Der präfrontale Kortex bspw. funktioniert bei kleinen Kindern noch nicht so wie bei reifen Erwachsenen und deshalb gehören Selbstbeherrschung, Planung, Urteilsvermögen oder der Einbezug eines Kontexts («Mama, hast du die dicke Frau da vor uns gesehen?!») noch nicht zu ihren Stärken.

Wenn aber alles rund läuft, nimmt der präfrontale Kortex irgendwann nach dem fünften Geburtstag so richtig an Fahrt auf: Er braucht für sein Funktionieren nämlich die Verkabelung der rechten und der linken Hirnhälfte und die ist jetzt bereit. Das ist natürlich kein Schalter, der umgelegt werden kann und der dann für immer einrastet – schön wär’s! Der präfrontale Kortex braucht ganz im Gegenteil unzählige Trainingseinheiten mit steigender Intensität, um sein volles Potential auszuschöpfen und um der kindlichen Impulsivität zu entwachsen. (Und ja, er wird in der Pubertät nochmals umgebaut und ist dann zeitweise «wegen Umbau geschlossen» - und ja, ohne Training bleibt auch ein 50-jähriger präfrontaler Kortex auf dem Stand eines Kleinkindes).

Wenn sich diese Verkabelung von links und rechts bei unseren Kindern abzeichnet, erkennen wir das an zarten Überlegungen oder milden Emotionen: «Mein Panda ist ein bisschen traurig und ein bisschen froh, weil er zuhause bleiben muss – und ich auch». Oder: «Ich hab meine Schwester immer ganz fest lieb, ausser wenn sie doof ist, dann einfach etwas weniger». Da kommen auf einmal zwei widersprüchliche Aspekte zusammen – und zwar gleichzeitig und nicht gestaffelt: Sie verschmelzen nicht zu einem Smoothie oder Einheitsbrei, sondern bleiben als eigenständige Gedanken/Gefühle bestehen, wie bei einem Fruchtsalat. Wir nennen das den integrativen Reifwerdungsprozess und haben ihn bspw. in dieser oder dieser Podcast-Folge besprochen.

Ich habe bei meinen Kindern natürlich genau hingeschaut und glaube, auch in meinen Kindern ein gewisses «Wundern» erkannt zu haben ob dieser wunder-baren Entwicklung und der Tatsache, dass da plötzlich mehr möglich war und sie auf einmal zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig wahrnehmen konnten.

Und weil meine Kinder das in dieser Anfangsphase bereits spürten, es aber noch bei weitem nicht in allen Situationen leben und in ihrem Verhalten zeigen konnten (wer kann das schon?!), verzweifelten sie manchmal ob ihrem eigenen Innenleben, ihrer Köpfe und ihrer eigenen Impulsivität.

Das klang dann beispielsweise so:

  • «Mama, mein Kopf ist einfach sooo wütend auf dich, er kann gar nichts anderes mehr spüren! Ich hab dich vermutlich schon noch lieb, aber jetzt spür ich das einfach nicht!!!» - Wenn ich gerade als gemeinste Mama der Welt beschimpft werde, weil ich die Frechheit habe, erst den Abwasch fertig zu machen, bevor ich die Luke in den Estrich öffne.

  • «Mein Kopf will jetzt einfach kein Brot mit Rinde essen – er weiss grad nicht mehr, dass ich das eigentlich auch beissen kann!»

  • «Nein, nein, nein – ich esse das Gemüse nicht. Mein Kopf hat NEIN gesagt. Und wenn er NEIN sagt, denn ist es so, denn hat er sich dafür entschieden und basta! Ihm ist egal, dass er weiss, dass er eigentlich auch mag!»

In alle diesen Fällen gaben mir meine Kinder Einblick in ihre innere Herausforderung, zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig wahrzunehmen: Sie wussten und spürten, dass das eigentlich möglich wäre und dass es neben dem Impuls, dem sie gerade nachgaben, noch etwas anderes in ihnen gab (dass sie Brot mit Rinde durchaus beissen können oder das Gemüse eigentlich mögen, genauso wie die Mama, die nicht auf Knopfdruck Befehle ausführt) – doch just in diesem Moment waren sie unfähig, auch dieses ausgleichende Element gross zu machen.

Egal wie absurd oder nervtötend solche Situationen waren resp. sind: Kinder brauchen Eltern, die ganz viel Verständnis für die riesigen inneren Herausforderungen haben, denen sie sich da gerade stellen.

Und mehr noch: Sie brauchen eine ganz dicke und grosszügige Einladung von unserer Seite, wenn sie im Nachhinein fast an ihrem Kopf und ihrer Unfähigkeit verzweifeln: «Mama, es tut mir fest leid: In meinem Kopf hab ich vorher nur noch gespürt, dass du so gemein bist. Ich war so wütend, dass ich ganz vergessen habe, dass du meine liebste Mama bist…»

Wie wunder-bar sind solche Worte. Und wie wichtig ist es, unseren Kindern genau dann Wertschätzung entgegen zu bringen («Ich weiss: Wenn man wirklich wütend ist, dann ist es so schwierig, gleichzeitig noch etwas anders zu fühlen») und den Fokus nicht auf die Entschuldigung zu legen («Es tut dir also leid, dass du…») oder gar den Mahnfinger zu erheben («Es geht einfach nicht, dass du wegen so einer Kleinigkeit…»).

Nun, es war bei jedem meiner Kinder ein Staunen über diese Entwicklung und auch über die Fähigkeit meiner Kinder, das alles in Worte zu fassen. Und natürlich haben mein Mann und ich diese ersten Schritte hin zu einer reifen Persönlichkeit auch gefeiert, zwar eher im Kleinen und Stillen, auch wenn Gordon Neufeld einst sagte, das sei der Moment um als Eltern den Champagner hervorzuholen. Man soll die Feste schliesslich feiern, wie sie fallen – vor allem wenn wir ganz genau wissen, dass der präfrontale Kortex noch ganz, ganz viele Übungsmöglichkeiten braucht und der Weg hin zu einer reifen Persönlichkeit noch weit ist.

 

* Wer gerne tiefer in die Entwicklung von Kindern eintauchen möchte: Im Intensiv-Kurs «Kinder mit ganzem Herzen sehen» ist das möglich.

Foto: S. & J. Zäh

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